Einwanderungsland trotz Krise

Deutschland muss sich entscheiden, auch während einer Krise ein erfolgreiches Einwanderungsland zu werden. Für eine allgemeine Akzeptanz für Zuwanderung braucht es jedoch mehr reguläre und weniger irreguläre Migration.

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb Konstantin Kuhle folgenden Gastbeitrag:

Im August 2019 verabschiedete die damalige Große Koalition das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Schon damals bestanden erhebliche Zweifel, ob die zaghaften Erleichterungen für die dringend benötigte Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt ausreichen. Als das Gesetz im März 2020 in Kraft trat, war Deutschland auf dem Weg in den Corona-Modus. Die Pandemie wirkte sich auch negativ auf die Tätigkeit der Behörden aus, die Visa und Arbeitserlaubnisse ausstellen – und auf die Zahl der interessierten Antragsteller. „Covid-19-Pandemie bremst neu eingeführtes Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus“, hieß es dazu im Migrationsbericht der Bundesregierung für 2020.

Auch 2022 droht eine Krise, den dringend erforderlichen Neuanfang in der Migrationspolitik zu behindern. Der dramatische Mangel an Arbeitskräften ist branchenübergreifend mit Händen zu greifen. Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die daraus folgende weltweite Energiekrise und die angespannte Lage vieler privater Haushalte und Unternehmen erfordern ein kurzfristiges und anlassbezogenes Gegensteuern der Politik. Wer nicht weiß, wie er seine Strom- oder Gasrechnung bezahlen soll, hat für große politische Projekte verständlicherweise keinen Kopf. Doch gerade in dieser Lage dürfen die nötigen Strukturreformen, einschließlich einer neuen Migrationspolitik, nicht unter die Räder kommen. Sonst trifft uns die nächste Krise umso härter.

Wichtiger Teil einer neuen Migrationspolitik muss die im Koalitionsvertrag der Ampelpartner vereinbarte Chancenkarte sein. Deutschland bemüht sich im Wettbewerb nicht hinreichend um Talente, die sich noch nicht auf einen Arbeitsplatz festgelegt haben. Anhand von Kriterien wie in den Punktesystemen erfolgreicher Einwanderungsländer muss die Arbeitsplatzsuche erleichtert werden. Gleichzeitig müssen die Einkommensgrenzen für die Zuwanderung mit einem Arbeitsvertrag gesenkt und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse drastisch vereinfacht werden.

Zu den Krisensymptomen unserer Zeit gehören wachsende Flüchtlingszahlen. Schätzungen zufolge dürfte die Zahl an Erstanträgen auf Asyl in diesem Jahr bei knapp 200 000 liegen. Für 2021 weist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aber insgesamt nur 166 506 Drittstaatsangehörige mit Ersterteilung eines Aufenthaltstitels im Rahmen der Bildungs- und Erwerbsmigration aus. Deutschland muss angesichts der Fluchtbewegungen auf der Welt seinen humanitären Verpflichtungen nachkommen und das Asylversprechen des Grundgesetzes einhalten. Wenn die Zahl an Asylanträgen allerdings dauerhaft höher ist als die Zahl an Visa und Arbeitserlaubnissen für Einwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt, dann stimmt der Fokus der Migrationspolitik nicht. Denn das Asylsystem ist kein Ersatz für einen funktionierenden Zuzug in den Arbeitsmarkt. Nicht jeder, der einen Asylantrag stellt, kann auch einen Schutzgrund geltend machen. Es muss daher zur Regel werden, dass in jedem Jahr mehr Menschen mit einem Arbeitsvisum nach Deutschland kommen als im Zusammenhang mit einem gestellten Asylantrag.

Es wäre nicht im Interesse unseres Landes, wenn die kommenden Monate erneut von einer hitzigen Diskussion über die Flüchtlingspolitik geprägt wären. Neben einer Entlastung für die Kommunen sollten wir vielmehr über den praktischen Zugang zur Arbeitsmigration für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sprechen. Ein solcher Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik wird aber nur erfolgreich sein, wenn es in der Gesellschaft eine allgemeine Akzeptanz für Zuwanderung gibt. Dafür braucht es mehr reguläre und weniger irreguläre Migration. Neben einer schnelleren Entscheidung in Asylverfahren und einer konsequenteren Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht gilt es daher, die richtigen Anreize zu setzen: Die sogenannte Westbalkanregelung hat gezeigt, dass irreguläre Migration reduziert werden kann, wenn Menschen die Möglichkeit haben, statt über das Asylsystem lieber gleich als Arbeitskraft nach Deutschland zu kommen. Diese Regelung muss auf weitere Staaten ausgedehnt werden.

Unser Land wird es nur schaffen, reguläre Migration als Teil der Lösung für aktuelle und kommende Krisen zu begreifen, wenn es sich als selbstbewusstes Einwanderungsland versteht. Ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik muss von einem Kulturwandel in den Behörden begleitet werden. Bevor ein interessierter Zuwanderer heutzutage einen Termin in der Visastelle einer deutschen Auslandsvertretung erhält, haben ihm Staaten wie Kanada oder Australien längst den roten Teppich ausgerollt. Den demographischen Wandel und den Mangel an Arbeitskräften werden wir nur bewältigen, wenn motivierte Einwanderer kommen. Ein Land, in dem kurzfristige Reaktion auf Krisen bestimmender politischer Faktor ist und in dem Veränderung mit Bürokratie bekämpft wird, bringt nicht die nötige Offenheit für diese Menschen mit. Ein Land, das sich entschieden hat, auch während einer Krise ein erfolgreiches Einwanderungsland zu sein, schon.

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