Mehr Realismus in der Migrationspolitik
Ritualisierte Debatten bringen in der Migrationspolitik keinen Fortschritt. Stattdessen brauchen wir mehr Realismus und die Einsicht, dass alle ihren Teil zu einer Lösung beitragen müssen.
Konstantin Kuhle hat der FAZ folgendes Interview (Link) gegeben. Die Fragen stellte Dr. Helene Bubrowski.
Herr Kuhle, in der Migrationsdebatte zirkulieren viele bekannte Vorschläge und Argumente. Haben Sie manchmal ein Déjà-vu?
Ja, die Diskussion über Migration wird ritualisiert geführt. Aber das Wiederholen von Thesen und Vorschlägen ändert nichts an der Realität in den stark belasteten Kommunen. Das ist ein Grund für die Enttäuschung vieler Menschen.
Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass es jetzt nicht beim Reden bleibt?
Es gibt einen Vertrauensverlust in demokratische Institutionen. Das erschreckt viele politische Akteure, mich auch. Deshalb wächst an unterschiedlichen Stellen die Einsicht, dass wir es hinbekommen müssen, die Zahlen zu senken. Der Kanzler spricht mit dem Oppositionsführer. Es kommt etwas in Bewegung.
Brauchen wir einen neuen Asylkompromiss?
Das Asylrecht ist Anfang der neunziger Jahre massiv eingeschränkt worden. Wenn man den Asylkompromiss von Union, SPD und FDP heute liest, findet man viele Antworten auf Fragen, die wir uns heute stellen. Politisch Verfolgte genießen Asyl, aber wenn man aus einem Land einwandert, in dem man entweder nicht verfolgt ist oder schon Asyl beantragt hat, dann hat man kein Anrecht auf Asyl. Jetzt müssen alle ihren Teil zu einer Lösung beitragen.
Meinen Sie einen Mentalitätswandel?
Mehr als das. Wenn die Ministerpräsidentenkonferenz im Mai beschließt, dass Georgien und Moldau als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollen und der Ausreisegewahrsam auf 28 Tage verlängert wird, warum sind beide Maßnahmen dann erst Ende des Jahres im Bundestag? Das dauert zu lange. Noch ein Beispiel: Das geltende Recht sieht jetzt schon vor, dass Kommunen an Asylbewerber Sachleistungen ausgeben oder eine Bezahlkarte einsetzen können. Und jetzt schieben sich die Länder und der Bund gegenseitig die Schuld zu, warum das bislang nicht passiert ist.
Und damit erübrigen sich Debatten über Obergrenzen?
Ich wünsche mir Sachlichkeit von denen, die diese Diskussion über Obergrenzen jetzt zum 25. Mal führen. Ist damit gemeint, dass ein Grundrecht, das seit 1949 in unserer Verfassung steht, abgeschafft werden soll? Das will ich nicht. Und das ist auch gar nicht nötig: Anfang der 2000er Jahre galt dasselbe Recht wie heute, aber es gab nur einen Bruchteil der Asylbewerber. Das zeigt, dass es mit unserem Asylsystem möglich ist, die Zahl runterzubringen. Oder ist mit Obergrenze gemeint, dass mit einer bestimmten Zielgröße die Belastungsgrenze der Kommunen beschrieben wird? Dann wäre das ein wertvoller Debattenbeitrag. Aber das Ritual kann man sich schenken.
Müssen noch mehr Staaten auf die Liste der sicheren Herkunftsländer?
Ja, es muss ein automatisches Verfahren zur Einstufung sicherer Herkunftsstaaten geben. Wenn die Anerkennungsquote unter einer bestimmten Prozentzahl liegt, sollte immer darüber nachgedacht werden, ob bei einer Einstufung möglich ist. Wir brauchen hier nicht jedes Mal eine Grundsatzdiskussion. Ich wünsche mir mehr Realismus unserer Koalitionspartner.
Sie meinen die Grünen. Wie würde Ihre Migrationspolitik aussehen, wenn die Grünen nicht Ihr Koalitionspartner wären?
Ich empfehle uns nicht, sich eine andere Realität herbeizuwünschen, sondern unsere eigene Verantwortung jetzt wahrzunehmen. Außerdem sitzt in der Ministerpräsidentenkonferenz auch ein Grüner, Winfried Kretschmann, und auch grüne Bürgermeister und Landräte bringen ihre Position ein. Und wir dürfen die Erfolge der Ampel auch nicht kleinreden.
Die wären?
Die Bundesregierung hat substanzielle Fortschritte beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem erreicht. Das hat das Innenministerium unter Führung von CDU und CSU nicht geschafft. So weit wie jetzt waren wir noch nie. Nach dem Ergebnis der polnischen Wahl bin ich optimistisch: Eine Lösung in der Migrationspolitik ist in greifbarer Nähe. Auch bei der Arbeitsmigration sind wir weitergekommen: Wir haben wir ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz nach dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer beschlossen, um den Arbeitskräftemangel in Deutschland spürbar zu bekämpfen.
Sie wollen außerdem den Spurwechsel vom Asylsystem in die Arbeitsmigration erleichtern.
Es muss weiterhin eine klare Trennung geben zwischen Asyl und Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Aber es gibt unterschiedlichste Gründe, warum Menschen, die keinen Asylanspruch haben, nicht abgeschoben werden können, zum Beispiel, weil die Herkunftsländer sie nicht zurücknehmen. Alles, was wir sagen, ist: Wenn Menschen sich hier über mehrere Jahre aufgehalten haben, dann muss es einen Unterschied machen, ob jemand sich strafbar gemacht hat oder nicht, ob jemand die deutsche Sprache gelernt hat oder nicht und ob jemand von seiner eigenen Hände Arbeit leben kann. Wir wollen eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen. Aber klar ist: Es darf nicht einfacher sein, über das Asylsystem in den Arbeitsmarkt zu kommen als über die Erwerbseinwanderung. Sonst hätten wir nichts gewonnen.
Ist der Spurwechsel sind trotzdem ein Pullfaktor?
Nein, wir haben ja sehr behutsam darauf geachtet werden, dass es immer Stichtagsregelungen gibt, die sich auf die Vergangenheit beziehen.
Sie haben das Problem angesprochen, dass Länder ihre Staatsangehörigen nicht zurücknehmen. Hier sollen Migrationsabkommen helfen, die Joachim Stamp als Beauftragter aushandeln soll. Braucht es da nicht das politische Gewicht des Kanzlers?
Es ist wichtig, dass Politiker in die Herkunfts- und Transitländer reisen und über die Interessen dieser Länder sprechen. Sie wollen, dass ihre Leute visumsfrei in die EU reisen können, hier arbeiten und studieren. Da können wir ihnen entgegenkommen, wenn sie dafür ihre Staatsangehörigen zurücknehmen. Das ist ein total wirksames Instrument. Joachim Stamp ist unterwegs, der Kanzler auch.
Haben Sie nicht Sorge, dass Sie mehr versprechen als Sie halten können?
Wir dürfen in der Migrationspolitik nur Lösungen anbieten, an deren Erfüllung wir tatsächlich mitarbeiten können. Wenn man rhetorisch eine Erwartungskulisse aufbaut, die am Ende nur noch von Rechtspopulisten befriedigt werden kann, dann nutzt der Diskurs am Ende den Rechtspopulisten.
Wenn Ihre migrationspolitischen Ideen aufgehen, sinkt dann die Zustimmung für die AfD?
Das Thema Migration spielt eine entscheidende Rolle, ob Demokratiefeinde und Rechtspopulisten Erfolg haben oder nicht. Wenn es uns gelingt, Ordnung und Kontrolle in die Migration zu bringen, ist es weniger wahrscheinlich, dass Populisten Erfolg haben. Aber man darf sich immer nicht der Illusion hingeben, dass die gesamte Verunsicherung und Überforderung in der Gesellschaft allein mit dem Thema Migration zusammenhängt. Auch die Wirtschaftspolitik, die Inflation, die Auswirkungen des Krieges mitten in Europa spielen dabei eine Rolle.