Meinungsfreiheit braucht Lust auf Kontroverse
Dieser Beitrag erschien im Rahmen der Kolumne „Kipping oder Kuhle“ zuerst auf ntv.de: (https://www.n-tv.de/politik/politik_kipping_oder_kuhle/Meinungsfreiheit-braucht-Lust-auf-Kontroverse-article22629506.html):
Die Klage schallt recht laut durch die Lande: Die Meinungsfreiheit in Deutschland sei in Gefahr. Aber ist sie das wirklich? Oder wünschen sich manche bloß, ohne Widerspruch zu leben? Was wir brauchen, ist etwas mehr Lust zu diskutieren.
Nach aktuellen Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sieht fast jeder Zweite in Deutschland die Meinungsfreiheit in Gefahr. Viele Bürgerinnen und Bürger machen sich der Erhebung nach Sorgen, sie könnten ihre Gedanken in der Öffentlichkeit nicht oder nicht mehr frei äußern. Diese Befunde sind alarmierend. Denn die freiheitlich-demokratische Grundordnung lebt nicht nur von der rechtlichen Existenz der Grundrechte, wie etwa der Meinungsfreiheit, auf dem Papier. Sie hängt auch davon ab, dass Menschen aktiv von diesen Rechten Gebrauch machen können.
Vielen Menschen, die sich um die Meinungsfreiheit in Deutschland sorgen, geht es dabei nicht um staatliche Eingriffe gegen bestimmte Standpunkte. Es geht ihnen um das empfundene Meinungsklima, nach dem nur bestimmte Positionen in der Öffentlichkeit erwünscht seien. Wer, beispielsweise bei den Themen Islam, Klima oder Geschlechtergerechtigkeit andere als die gewünschte Meinung vertrete, werde ausgegrenzt und habe im schlimmsten Fall mit Konsequenzen zu rechnen.
Diese von vielen Menschen geteilten Eindrücke sind Anlass zur aktiven Verteidigung der Meinungsfreiheit. Sie sind aber auch eine Aufforderung zur Aufklärung. Denn die in der Verfassung verbriefte Meinungsfreiheit schützt nicht vor Widerspruch. Das härteste Gegenargument ist vielmehr der schönste Gebrauch der Meinungsfreiheit. Doch heutzutage prallen Argumente viel häufiger aufeinander als in früheren Zeiten. Debatten sind nicht härter, sondern schlichtweg präsenter geworden. Öffentliche Diskussionen finden nicht nur einmal pro Tag in der Leserbriefspalte der regionalen Tageszeitung statt. Sie erfolgen über 24 Stunden hinweg in Echtzeit über verschiedene soziale Netzwerke und Online-Medien sowie zusätzlich über klassische Formate wie Radio, Fernsehen und Zeitung, die ihrerseits die Geschwindigkeit und Intensität der sozialen und Online-Medien aufgreifen. Zudem kann jeder mitdiskutieren.
Persönliche Erniedrigung nicht weit weg
Ob Kritik an den aktuellen Corona-Maßnahmen auf Twitter oder ein Facebook-Kommentar zur Flüchtlingspolitik - der eigene Standpunkt ist schnell platziert. Dieser einfache Zugang zur Öffentlichkeit, verbunden mit den Mechanismen der sozialen Medien, macht das Diskussionsklima im öffentlichen Raum rau und ungemütlich. Denn vom Argument in der Sache zur persönlichen Erniedrigung ist man oft nur einen Klick entfernt. Indem mehr Menschen heutzutage schneller und einfacher Teil öffentlicher Debatten sein können, vermitteln sie einander zugleich den Eindruck, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr. Gegen diese gefährliche Entwicklung braucht es Medienkompetenz, Selbstreflexion, Respekt, Fehlerkultur und weniger Lust am Kulturkampf.
Wie organisiert Deutschland nach der Corona-Krise ein wirtschaftliches Wachstum, mit dem sich die Folgen der Pandemie bewältigen lassen? Wie bekämpfen wir wirksam den Klimawandel, ohne Industrie und Arbeitsplätze auszulöschen? Wie reformieren wir die sozialen Sicherungssystemen angesichts des demografischen Wandels? Wie digitalisieren wir endlich das Bildungssystem und die öffentliche Verwaltung? Diese entscheidenden Fragen sollten im Zentrum der öffentlichen Debatte der nächsten Wochen und Monate stehen. Es ist fahrlässig, wenn die politische Linke versucht, Identität über wichtige Sachfragen zu stellen. Und es ist fahrlässig, wenn die politische Rechte versucht, den Eindruck zu erwecken, die Politik beschäftige sich gar nicht mit Sachfragen, sondern ausschließlich mit Identität.
Die Forderung nach der verpflichtenden Einführung gendergerechter Sprache ist ebenso unsinnig wie die Forderung nach einem Verbot gendergerechter Sprache. Beide Forderungen sorgen für Reichweite und befeuern den Eindruck, die Politik befasse sich mit Nebensächlichkeiten statt mit dem Leben der Menschen. Statt über derartige Symbole zu sprechen, braucht Deutschland echte politische Kontroversen. Steuern rauf oder Steuern runter? Mieten deckeln oder Wohnungen bauen? CO2-Steuer oder Zertifikatehandel? Reform des Föderalismus oder mehr Verantwortung vor Ort? In der deutschen Öffentlichkeit kommt die Lust auf diese Kontroversen oftmals zu kurz.
Fragestunde im Bundestag spannender machen
Das zeigt sich auch innerhalb der staatlichen Institutionen: Während viele Menschen die leidenschaftlichen Brexit-Debatten im britischen Unterhaus verfolgten, ist die Befragung der Bundesregierung im Deutschen Bundestag ein ödes Ritual, an dem die Bundeskanzlerin ohnehin nur ausnahmsweise teilnimmt. Besser wäre es, die Regierungschefin oder andere Kabinettsmitglieder würden sich häufiger in freier Rede mit den Abgeordneten messen. Die so genannte Fragestunde, bei der parlamentarische Staatssekretäre die vorformulierten Antworten der Bundesregierung auf vorab eingereichte Fragen von Zetteln ablesen, sollte man gleich ganz abschaffen. Die Repräsentanten des Staates sollten Wertschätzung für den Gebrauch der Meinungsfreiheit auch selbst ausstrahlen.
Während der vergangenen Monate wurde von verschiedenen Akteuren mehrfach vorgeschlagen, zentrale Themen wie die Bekämpfung der Corona-Krise oder des Klimawandels aus dem Wahlkampf auszuklammern. Hinter diesen Vorschlägen verbirgt sich eine tief sitzende Sehnsucht nach technokratischer Steuerung. Unterschiedliche Meinungen werden bei der Lösung komplexer Probleme als störend empfunden. Warum setzten sich nicht die klügsten Köpfe aus allen Parteien zusammen und erarbeiten die richtige Lösung? Oder man überlasst die Abwägung unterschiedlicher Interessen gleich ganz der Wissenschaft? Mit dieser Haltung kann man auf Wahlen und Mehrheitsentscheidungen gleich ganz verzichten.
Demokratie meint immer das Ringen unterschiedlicher Interessen und das Abwägen der Argumente auf der Basis der eigenen Haltung. Die Meinungsfreiheit ist kein bequemes Grundrecht. Auch ist das Grundgesetz kein Programm zur Beilegung von Konflikten. Es ist eher eine Anleitung zum Austragen von Konflikten. Dazu braucht es mündige Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern - mit Lust auf Kontroversen.