Freiheit ist kein Schimpfwort

Dieser Gastbeitrag erschien zunächst bei FAZ.net.

Die Herablassung, mit der Freiheit während der Pandemie als Schimpfwort benutzt wird, tut der Gesellschaft nicht gut. Aber die Eindimensionalität, mit der sie radikale Impfgegner und Querdenker für sich reklamieren, auch nicht.

Deutschland befindet sich mitten in der vierten Corona-Welle. Während die Beschäftigten auf den Intensivstationen um das Leben vieler Patientinnen und Patienten kämpfen, diskutiert das Land einmal mehr über das richtige Maß an Einschränkungen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Besonders im Fokus befindet sich die Gruppe der bisher nicht geimpften Personen. Denn sie tragen ein signifikant höheres Risiko eines schwereren Krankheitsverlaufs und sind damit ein wesentlicher Grund für eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems. Außerdem gefährden sie auch die Geimpften, weil weitere Virus-Mutationen durch eine stärkere Infektionsdynamik wahrscheinlich werden. 

Der im europäischen Vergleich hohe Anteil an Ungeimpften in Deutschland muss alle Verantwortlichen zum Nachdenken und zum Handeln bringen. In der öffentlichen Debatte, besonders in den sozialen Medien, wird dabei aktuell vor allem um den Begriff der Freiheit gerungen. Für eine Seite ist jede noch so harmlose Maßnahme, und sei es bloß die Verpflichtung zum Tragen einer Maske, ein autoritärer Freiheitseingriff, der alle Sicherungen durchbrennen lässt. Beim Thema Impfen tritt eine seltsame Mischung aus Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit hinzu. Dabei sind nicht alle Ungeimpften radikale Impfgegner. Manche sind weiterhin der Auffassung, der Kelch, sich mit der Frage einer Impfung befassen zu müssen, würde schon irgendwie an ihnen vorbei gehen. Doch so sehr sich alle Ungeimpften auf ihre persönliche Freiheit berufen dürfen, so sehr müssen sie es nun ertragen, unangenehme Fragen zur Eindimensionalität ihres Freiheitsbegriffs beantworten zu müssen. 

Für die andere Seite aber hat sich das Berufen auf die persönliche Freiheit schlechthin zum Schimpfwort entwickelt. Allerorts werden Stimmen laut, die „jetzt aber wirklich“ ein hartes Durchgreifen des Staates verlangen. Der Begriff der Freiheit wird zur unanständigen und unmoralischen Referenz verklärt. Wer sich auf die Freiheit berufe, der sei nicht mehr ganz bei Trost. Weltärztepräsident Montgomery führte in dieser Woche die Bezeichnung „Freiheitsgesäusel“ ein. Solche Angriffe verkennen völlig, wie unsere Gesellschaft seit Ausbruch der Pandemie um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gerungen hat. Während des ersten Lockdowns durften sich Menschen nicht von ihren sterbenden Angehörigen verabschieden. Pauschale Verbote von Versammlungen und Gottesdiensten wurden vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Und die bayerische Polizei stellte klar, dass das einsame Lesen eines Buches unter freiem Himmel natürlich verboten sei.  

Staat und Gesellschaft haben in den vergangenen Monaten viel darüber gelernt, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht. Auch die Nebenwirkungen der Corona-Regelungen können wir heute besser bewerten als zu Beginn der Pandemie. Wer heute meint, das Argument der Freiheit sei in all diesen Diskussionen stets im Sinne einer rücksichtslosen Querdenker- und Impfgegner-Freiheit verwendet worden, übersieht, wo es während der Pandemie-Bekämpfung überall an Freiheit gefehlt hat. Die selbstbestimmte Entscheidung, vor allem von Frauen, Job und Familie unter einen Hut zu bekommen, war und ist durch die Kombination aus Homeoffice und Homeschooling massiv eingeschränkt. Der größte Freiheitsgewinn junger Menschen, der Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums in einem neuen Umfeld, mündete in den vergangenen Monaten nicht selten in Vereinsamung oder gar in einer psychischen Erkrankung. Und viele Selbstständige stehen längst vor den Trümmern ihrer Existenz. Wer bei Corona-Maßnahmen für Freiheit und Verhältnismäßigkeit eintritt, der hat meist die ganze Breite der Gesellschaft im Sinn, nicht bloß radikale Querdenker und Impfgegner. Freiheit ist eine Gemeinwohl-Kategorie – auch während einer Pandemie. 

Dazu gehört auch, dass Einschränkungen der Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat möglichst breit diskutiert und parlamentarisch legitimiert werden müssen. Indem die sich anbahnende Ampel-Koalition die so genannte epidemische Lage von nationaler Tragweite auslaufen lässt und stattdessen ein rechtssicheres Instrumentarium für wirksame Maßnahmen auf den Weg bringt, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Reparlamentarisierung der Corona-Politik. Es ist erschreckend, mit welcher Niveaulosigkeit vor allem CDU und CSU, die als Teil der geschäftsführenden Bundesregierung Verantwortung für die aktuelle Lage tragen, gegen das Einlösen dieses Wahlversprechens polemisieren. 

Angesichts der dramatischen Lage muss jetzt gehandelt werden. Die viel zu lange verschleppte Rückkehr des Impfens in den öffentlichen Raum und eine Testpflicht beim Zugang zu besonders gefährdeten Einrichtungen sind wichtige Bestandteile des Ampel-Pakets. Wer zusätzlich eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen oder Einrichtungen einführen möchte, wird dies nicht ohne eine ausführliche parlamentarische Beratung tun können. Es ist selbstverständlich, dass sich die FDP mit der Einführung verpflichtender Impfungen schwertun würde – von Fragen der praktischen Umsetzung ganz zu schweigen. Wer die Freiheiten schützen möchte, die über viele Monate der Pandemie hinweg mühsam, auch durch Impfungen, errungen wurden, der wird sich einer sorgfältigen Diskussion und Abwägung mit Blick auf Impfpflichten für bestimmte Bereiche nicht verschließen. Wer sich einen solchen Schritt wünscht, tut gut daran, sich auf die Freiheit als Begründungs- und Rechtfertigungskategorie einzulassen.

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Innen- und Rechtspolitik der Ampelkoalition

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